Die westliche Rezeption der Chinesischen Medizin

Die westliche Rezeption der Chinesischen Medizin

Die Vorteile des Chinesischlernens, der exakten Übersetzung,
und der Terminologienormung
Nigel Wiseman
China Medical College, Taiwan

Vortrag zum 31. TCM-Kongreß, Rothenburg 2000

Die meisten Vorträge, die auf diesem Kongreß gehalten werden, beziehen sich auf die kli­nische Praxis der Chinesischen Medizin. Meine heutige Rede bezieht sich auf den Vorgang der Übermittlung der Chinesischen Medizin in den Westen. Dieses Thema betrifft nicht di­rekt die klinische Praxis, dennoch ist es von großer klinischer Bedeutung.

Die Übermittlung der Chinesischen Medizin

Mein Interesse an Chinesischer Medizin wurde geweckt, als ich vor zwanzig Jahren als Chinesischstudent in Taiwan ankam. Bei einem Arzt in Taipeh fing ich an Chinesische Me­dizin zu studieren. Er empfahl mir Medizinbücher, erlaubte mir, in seinen Sprechstunden beizusitzen, und ließ mich rohe Arzneimittel zubereiten und Rezepte anfertigen.

Alles, was in der Klinik vorging, fand ich hochinteressant. Als ich aber die Literatur, die mir mein Lehrer vorgeschrieben hatte, mit der englischsprachigen Literatur der Chinesi­schen Medizin verglich, sah ich sofort, daß die Übermittlung der Chinesischen Medizin nicht vollkommen erfolgreich gewesen war. Seit jener Zeit widme ich mich der Verbesse­rung der Übermittlung der Chinesischen Medizin.

Meine ersten Beobachtungen gelten auch heute noch. Die chinesischsprachige Literatur ist viel größer als die englischsprachige Literatur zu diesem Thema. Die Zahl der in China veröffentlichten Bücher über die Chinesische Medizin wird auf 10.000 (Sivin 1987) und 12.000 (Unschuld 1990) geschätzt. Demgegenüber liegt die Zahl der von 1950 bis 1993 veröffentlichen englischsprachigen Bücher über die Chinesische Medizin bei weniger als 500 (Birch & Tsutani 1996). Obwohl sich die Chinesische Medizin seit einigen Jahrzehn­ten zunehmender Popularität erfreut, bleibt die englischsprachige Literatur zu diesem Sachge­biet gering.

Nicht jedes Buch ist aus dem Chinesischen übersetzt oder aus chinesischen Quellen zu­sammengestellt worden. Bei der Literatur, die die englischsprachigen Ländern hervorge­bracht haben, findet man aufrichtige Versuche, die chinesische Tradition akkurat darzu­stellen. Man findet aber auch Beiträge von Autoren, die keinen sprachlichen Zugang zu der in chinesischsprachigen Texten enthaltenen Praxis besitzen. Das sieht man schon an ihren Bibliographien.

Infolge des mangelnden Zugang zu Primärquellen besitzen englischsprachige Bücher be­trächtlich weniger begriffliche Komplexität. Wo zum Beispiel die chinesischsprachige Li­teratur eine höchst differenzierte Terminologie von Symptomen besitzt, beschreibt die englischsprachige Literatur die Symptome in einem Alltagswortschatz, wie man ihn bei uns bei einem Arztbesuch verwenden würde. Die feineren Differenzierungen chinesischer Texte sind im Übermittlungsvorgang verschwunden.

Darüber hinaus findet man in der englischsprachigen Literatur zudem veränderte Versionen der Chinesischen Medizin, die ihre Autoren für geeigneter für die westlichen Verhältnisse halten. Solche Versionen sind häufig weder in wissenschaftlicher Forschung noch in der chinesischen Tradition begründet. Man ist offensichtlich genau so bemüht, die Chinesische Medizin den westlichen Notwendigkeiten anzupassen wie genaue Kenntnisse der Chinesi­schen Medizin zu erlangen.

Wenn ich die gegenwärtige Sachlage genau beschrieben habe, dann zeigt sich deutlich, daß die Übermittlung der Chinesischen Medizin noch in den Kinderschuhen steckt.

Ich glaube, daß es hilfreich ist, die Übermittlung der Chinesischen Medizin in den Westen mit der Übermittlung westlichen wissenschaftlichen und technologischen Wissens nach Fernost zu vergleichen. Wie Sie schon wissen, haben sich China, Japan und Korea durch die erfolgreiche Adoption westlichen Wissens zu gewaltigen Industrie- und Handelsmäch­ten entwickelt.

Als die westliche Medizin in China eingeführt wurde, wurde sie nicht als ein einzelnes Wissensgebiet übernommen, sondern als Teil einer Reihe untereinander zusammenhängen­der Fachgebiete. Zu jener Zeit war China ökonomisch und geistig geschwächt. Die An­nahme der westlichen Wissenschaft und Technik wurde als die einzig mögliche Weise be­trachtet, dem chinesischen Volk auf die Beine zu helfen.

Unter solchen Umständen haben die Chinesen klar gesehen, daß man erst dann Zugang zu ausländischem Wissen erlangt, wenn man die Sprachbarriere überwindet. Sprachschulen wurden errichtet, and Studenten wurden zum Studium ins Ausland geschickt. Heutzutage besitzen alle gebildeten Chinesen Kenntnisse des Englischen oder anderer westlicher Spra­chen.

Die Chinesen haben damals das Erlernen von Fremdsprachen als Schlüssel zum Zugang zu westlichen Kenntnissen erkannt. Ihr Erfolg beim Erwerb abendländischer Erkenntnisse ist in hohem Maße auf die Überwindung der Sprachbarriere zurückzuführen.

Ich glaube, daß die Übermittlung der Chinesischen Medizin in Westen genau deshalb viel weniger erfolgreich gewesen ist als sie hätte sein können, weil man die Sprache nicht als Träger des Wissens erkannt hat. Meiner Meinung nach weist jeder Aspekt der Übermitt­lung der Chinesischen Medizin solche Unzulänglichkeiten auf, die sich nur dadurch erklä­ren, daß man die Wichtigkeit des sprachlichen Zugangs nicht anerkennt.

Ich bin mit der Übermittlung der Chinesischen Medizin in die englischsprachigen Länder bestens vertraut, habe jedoch den starken Eindruck, daß die Situation bei uns mit der des Europäischen Festlands vergleichbar ist.

Die englischsprachige Bevölkerung läßt sich nicht leicht von der Wichtigkeit der Fremd­sprachenerlehrnung überzeugen. Weil Englisch schon lange zur Weltsprache geworden ist, kann jeder Englischsprechende überall zurecht kommen, ohne irgendwelche Fremdspra­chen erlernen zu müssen.

Die an diesem Kongreß Beteiligten sind meistens Deutschsprechende, die sich sicherlich sehr bewußt sind, daß man in vielen Aspekten des Lebens ohne Fremdsprachenkenntnisse nicht auskommt. Sie lernen Englisch, um mit Ausländern Geschäfte zu machen, internatio­nalen akademischen Austausch zu halten, oder irgendwelchen Kontakt mit der Außenwelt zu haben. Beispielsweise ist heutzutage jeder deutschsprachige Arzt in der Lage, fließend englische Medizintexte zu lesen. Jeder deutschsprachige Forscher, der für die Ergebnisse seiner Forschungsarbeit internationale Anerkennung anstrebt, muß auch noch gut Englisch schreiben. Für jeden deutschsprachigen Arzt ist Englisch ein absolutes Muß.

Wenn wir nun unsere Gedanken auf die Chinesische Medizin richten, müssen wir erken­nen, daß die chinesische Sprache die größte Literatur zur Chinesischen Medizin besitzt. Obwohl Englisch die heutige Weltsprache ist, ist es nicht die Sprache der Chinesischen Medizin. Die Chinesen verfügen über 2.000jährige Erfahrungen, die sich in einem enor­men Schrift­tum niedergeschlagen haben. Die Übernahme der Chinesischen Medizin in westliche Län­der hat erst in jüngster Zeit stattgefunden. Die in europäischen Sprachen vor­handene Lite­ratur ist also wesentlich kleiner.

Bei deutschsprachigen wie bei englischsprachigen Studenten und Praktikern der Chinesi­schen Medizin wird selten Chinesisch gelernt. Darüber hinaus habe ich den Eindruck, daß die deutschsprachige wie die englischsprachige Literatur zum großen Teil von Autoren er­stellt worden ist, die keinen sprachlichen Zugang zu chinesischen Quellen besitzen. Im deutschsprachigen Gebiet sind wahrscheinlich wie bei uns ebenfalls viele Erkenntnisse vermittelst der früheren französischen Literatur erworben worden.

Die deutschsprachige genau wie die englischsprachige Gemeinschaft der Chinesischen Medizin besitzt unzulänglichen Informationszugang. Man mag sich wohl der Vorteile be­wußt sein, die sich vom Zugang zu chinesischen Texten ableiten, schreckt aber vor der an­geblich äußerst schwierigen Aufgabe Chinesisch zu lernen zurück. Wenn aber die Schwie­rigkeit einer Sprache für derer Benutzung entscheidend wäre, dann hätten die Europäer, so glaube ich, vor mehr als Tausend Jahren Lateinisch aufgegeben.

Ein noch wichtigerer Grund dafür, daß man sich nicht aufgerafft hat Chinesisch zu lernen, liegt im weit verbreiteten Glauben, daß ein Verständnis für Chinesische Medizin keines in­tensiven Bücherstudiums und deswegen auch keines Zugangs zu ursprünglichen Texten bedarf.

Man stellt sich die Chinesische Medizin als einen einfachen, begrenzten Wissenskorpus vor, den man im Westen zum großen Teil bereits erlangt hat. Infolgedessen glaubt man, daß der Student sich hauptsächlich mit der klinischen Anwendung seines Wissens befassen muß. Eine solche Denkweise beruht meines Erachtens auf einer falschen Einschätzung der Chinesischen Medizin, die letzen Endes den Erwerb klinischer Fähigkeit beeinträchtigt.

Das Buchwissen hat in der Chinesischen Medizin immer eine wichtige Rolle gespielt. Strenges Studieren und Auswendiglernen der Klassiker wurde immer betont. Als Beweis dafür zeugt ein ganzes Genre von mnemotechnischen Versen. Die Chinesische Medizini­sche Literatur ist höchst vielfältig, enthält aber zum großen Teil die klinischen Erfahrungen chinesischer Ärzte, die für die westlichen Empfänger der Chinesischen Medizin auch heute noch interessant sind.

Der Glaube, daß der Erwerb von Chinesischen Medizinischen Kenntnissen minimales Buchwissen verlangt, entsteht nicht aus Vertrautheit mit der Chinesischen Medizin, son­dern aus Vorstellungen der Chinesischen Medizin als einer alternativen Heilkunde.

Alternative Heilkunden verwenden vermeintlich holistische Behandlungsverfahren, und ihre Wirksamkeit hängt vom Kontakt mit dem Patienten ab. Viele Anhänger solcher Heil­kunden meinen, das Buchwissen wäre zwar für den Erwerb klinischer Fähigkeit in gewis­sen Grenzen notwendig, aber nicht so wichtig, wie in der westlichen Medizin, wo Kontakt mit dem Patienten weniger wichtig ist. Weil sie sich die Chinesische Medizin als eine Al­ternative zur westlichen Medizin vorstellen, meinen sie, daß die Chinesische Medizin der westlichen Medizin nicht ähnlich sein könnte.

In Wirklichkeit ähnelt die Chinesische Medizin der westlichen Medizin mehr als man sich das gemeinhin vorstellt. Die Chinesische Medizin ist klinikorientierter als die westliche Medizin, und die in chinesischer Sprache angehäufte Literatur beschreibt meistens die kli­nischen Erfahrungen ihrer Autoren. Es wäre jedoch ein Irrtum zu glauben, daß man keinen Nutzen aus dieser Literatur ziehen könnte.

Ich versuche, Sie von den Vorteilen des Chinesischlernens zu überzeugen. Damit behaupte ich nicht, daß man ohne Chinesischkenntisse die Chinesische Medizin nicht praktizieren könnte oder dürfte. Ich möchte nur sagen, je mehr diejenigen, die sich mit der Chinesi­schen Medizin beschäftigen, Chinesisch lernen, desto umfassender werden ihre Kenntnisse der Chinesischen Medizin, und desto gesunder wird ihr Übermittlungsvorgang.

Wenn man Chinesisch lernt, so gewinnt man Zugang zu riesigen Informationsquellen, die in westlichen Sprachen nicht vorhanden sind. Auch gewinnt man damit Zugang zur großen Tradition der Chinesischen Medizin und erhält auch ansonsten nicht vorhandene Möglich­keiten, die klinische Fähigkeit zu verbessern.

Allerdings braucht nicht jeder Chinesisch lernen. Wenn wir aber verlangen würden, daß die Bestqualifizierten Zugang zu ursprünglichen Quellen haben, so würden wir einen gro­ßen Schritt zur Hebung des Kenntnis- und Bildungsniveaus tun. In allen Fachgebieten ist es üblich, daß jeder Gelehrte, der einen Beitrag zum Wissen leisten will, mit der jeweiligen Literatur vertraut sein muß. Da die Literatur der Chinesischen Medizin zum größten Teil in Chinesischen ist, versteht es sich von selbst, daß jeder, der zum westlichen Verständnis der Chinesischen Medizin beitragen möchte, mit der chinesischsprachigen Literatur vertraut sein sollte.

Wenn ein großes Teil der Empfängergemeinschaft keinen sprachlichen Zugang zu ur­sprünglichen Texten besitzt, dann ist die Übertragung authentischen chinesisch-medizini­schen Wissens nicht garantiert. Hier ein treffendes Beispiel. Es ist in jüngster Zeit bekannt geworden, daß zahlreiche englischsprachige Autoren den Glauben geäußert haben, daß die außerordentlichen Gefäße ursprüngliches Qi (yuan qi) oder Essenz (jing) speichern, und daß daher von der Nadelung dieser Gefäße abzuraten sei, um den Verlust dieser Substanzen zu verhindern (Birch & Felt 1999). Dieser Glaube stützt sich auf keine chinesischen Pri­märquellen wie das Huangdi Neijing oder das Nanjing, und ist auf die französischsprachi­gen Autoren Albert Chamfrault und Nguyen Van Nghi zurückzuführen, die, so vermutet man, eine Vietnamesische Tradition vertreten. Wenn die Empfänger von transkulturell übermitteltem Wissen keinen Zugang zur ursprünglichen Literatur haben, dann sind sie nicht imstande die empfangenen Informationen zu bewerten.

Je mehr Chinesisch gelernt wird, desto klarer wird das Verständnis der Chinesischen Medi­zin. Diejenigen, die sich die Mühe machen, Chinesisch zu lernen, freuen sich meistens das aus ursprünglichen Quellen Gelernte an andere weiterzugeben. Normalerweise haben sie auch große Lust, das Übersetzen zu versuchen. Je mehr Chinesisch gelernt wird, desto mehr wird übersetzt. Fremdsprachenkenntnisse sind Voraussetzung für das Übersetzen. Wenn man das Chinesischlernen fördern würde, dann würde man damit auch das Überset­zungspotential steigern. Durch die Ausdehnung der Übersetzungstätigkeit würden Studen­ten und Praktiker mit immer mehr und immer vielseitigeren Informationen versehen.

Die Übersetzung der Chinesischen Medizin

Wenn man die Sprache als Träger des Wissens anerkennt, sieht man leicht ein, daß auch für die Qualität der Übersetzung Sorge zu tragen ist. Die chinesisch medizinischen Terminolo­gien europäischer Sprachen sollten jeden ursprünglichen Begriff akkurat widerspiegeln. Im Englischen haben wir das noch nicht erreicht, und ich habe den Eindruck, daß dies im Deutschen auch noch nicht verwirklicht worden ist.

Vor allem Begriffe der westlichen Medizin wirken dabei oft störend auf den Übermitt­lungsvorgang. Die gewohnten Ausdrücke der westlichen Medizin dringen besonders in die Abhandlungen derjenigen ein, die keinen Sprachlichen Zugang zu chinesischen Texten ha­ben.

Bevor ich fortfahre, möchte ich darauf hinweisen, daß Fachtermini zwei Bedeutungsebe­nen besitzen. Die eine bezieht sich auf die zu kennzeichnenden Gegenstände. Dies sind au­ßersprachliche Phänomene, z. B. reale Dinge, Vorgänge oder Ereignisse. Die andere be­zieht sich auf den Begriff, d.h., die gedankliche Abstraktion des Gegenstands.

Wenn man nun zum Beispiel den chinesischen Terminus feng huo yan als “akute Binde­hautentzündung” übersetzt, so entspricht der deutsche Terminus vielleicht dem Gegen­stand, aber nicht dem Begriff des chinesischen Terminus. Auf der begrifflichen Ebene, be­zeichnet der chinesische Terminus eine Erkrankung des Auges, die durch Wind und Feuer verursacht wird. Demgegenüber ist “akute Bindehautentzündung” eine Erkrankung eines Teils des Auges, der in der chinesischen Augenheilkunde nie als solcher getrennt vom Auge als Ganzem konzipiert worden ist.

Wiseman

Lehnübersetzung Chinesisch westliche medizinische Äquivalente

wind-fire eye feng huo yan acute conjunctivitis

impediment bi arthralgia

wilting pattern wei zheng flaccidity syndrome

umbilical wind qi feng tetanus neonatorum

wind lichen feng xian tinea corporis

phlegm node tan he subcutaneous nodule

throat moth hou e tonsillitis

damp-toxin vaginal discharge shi du dai xia cervicitis

Wenn man bi als “arthralgia” (d.h., Gelenkschmerz) übersezt, so entspricht dieser Terminus weder dem Begriff noch dem Gegenstand des Ausgangsterminus. Auf der begrifflichen Ebene, bedeutet der chinesische Terminus “Verhinderung”. Auf der gegenständlichen Ebene bezieht er sich auf solche Erkrankungen, die in der westlichen Medizin als Arthritis, Ischias, und andere Formen von Nervenschmerzen bezeichnet werden.

Ich möchte hier darauf hinweisen, daß insbesondere die Gelehrten der VR China eine Vor­liebe für westliche medizinische Äquivalente haben, die offenbar darauf beruht, daß solche Äquivalente keiner Erläuterung bedürfen. Bemerkenswert ist, daß diese Vorgehensweise der Zielsetzung der VR China entspricht, die Chinesische Medizin in die moderne Medizin zu integrieren. Trotzdem gehen die Gelehrten der VR China in dieser Richtung nicht so weit wie bedauerlicherweise gewisse westliche Übersetzer.

Sowohl in den englischsprachigen und als auch in den deutschsprachigen Ländern stellt man sich Qi häufig als “Energie” vor. Noch irreführender bezeichnet man einen anderen grundlegenden Akupunkturbegriff, der zur Beseitigung von Qi-Stagnation dient, als Sedie­rung.

Seit der Antike verstehen die Chinesen Qi als eine feine Substanz. Bei ihnen hat sich der Begriff der Energie als Gegensatz zu Materie nicht entwickelt. Dieser Punkt ist schon wie­derholt diskutiert worden (Unschuld 1989, 1997), er hat sich aber augenscheinlich noch nicht eingeprägt. Obschon in den englischsprachigen Ländern der Terminus Qi sich weit­gehend durchgesetzt hat, stellt man sich Qi begrifflich weiterhin weitgehend als Energie vor.

Diese energetische Vorstellung des Qi spiegelt sich in der anhaltenden Verwendung des Terminus Sedieren wider. Das chinesische Wort xie lautet wörtlich “ableiten”. Sedieren, zum Lateinischen sedare, “beruhigen”, bedeutet fast genau das Gegenteil des chinesischem Terminus, den er angeblich wiedergibt. Sedieren würde mithin einen Eingriff bezeichnen, der die Stagnation verstärkt. Ganz offensichtlich macht die Verwendung von Sedierung im Zusammenhang der Akupunktur nur dann Sinn, wenn man sich Qi als irgendeine nervale Energie vorstellt, die der Beruhigung bedarf.

Die Akupunktur besitzt die sogenannten Methoden von “Öffnen und Schließen, Auffüllen und Ableiten” (kai he bu xie fa), die in folgender Weise ausgeführt werden. Wenn man “Auffüllen” will, dann drückt man den Einstechpunkt bei der Entfernung der Nadel zu, um den Abgang des Qi zu verhindern. Wenn man “Ableiten” will, dann schwenkt man die Na­del während des Herausziehens hin und her, um den Abgang von Qi zu erleichtern. Ganz offensichtlich verstand der Mediziner, der dieses Verfahren ersonnen hat, Qi als eine raum­einnehmende Substanz, deren Abgang vom Körper durch die Vergrößerung des Lochs zu erleichtern wäre.

Die Verwendung des Terminus Sedieren hat gewisse Folgen für das Verständnis der Aku­punktur. Die grundlegenden Begriffe von Qi, den Leitbahnen oder Meridianen, sind im we­sentlichen spekulativ. Wenn solche spekulativen Begriffe falsch dargestellt werden, dann hat dies schwer abzuschätzende Folgen für die Wirksamkeit der Behandlung. Die energeti­sche Vorstellung von Qi ist nicht wissenschaftlich begründet, und hilft darüber hinaus nicht, die Begriffe in ihrem ursprünglichen Ideenzusammenhang zu verstehen. Meines Wissens verwendet kein Autor, der hinreichenden sprachlichen Zugang zu ursprünglichen Texten besitzt, den Terminus Sedieren. Er ist deshalb in Umlauf gekommen, weil er in vielen Büchern vorkommt, deren Autoren keinen solchen Zugang besitzen.

Die genannten Beispiele sind höchst lehrreich. Ein gut gewählter Fachterminus spiegelt den bezeichneten Begriff wider. Die Fachtermini der westlichen Medizin spiegeln westli­che medizinische Begriffe wider, und können ergo keinen chinesischen Begriff bezeichnen, der der westlichen Medizin fremd ist.

Angesichts solcher terminologischer Probleme, stellt sich die Frage, ob es nicht irgendwel­che einfachen Prinzipien gäbe, von denen man sich bei der Übersetzung von Termini leiten lassen könnte. Die Antwort ist ja.

Seit dem klassischen Altertum handelt es sich in der Debatte um die Übersetzung um wörtliche gegen freie Übersetzung. Heutzutage ist die Diskussion der Übersetzungsfragen komplexer, aber die ursprünglichen Tendenzen sind noch dieselben geblieben. Ich ersetze die Termini wörtliche Übersetzung und freie Übersetzung durch ausgangsorientierte Über­setzung und zielorientierte Übersetzung (Wiseman 2000).

Die heutigen Übersetzungstheoretiker sind darüber einig, daß verschiedene Übersetzungs­strategien für verschiedene Zwecke geeignet sind. Ausgangsorientierte Übersetzung ist für philologische Zwecke geeignet, und auch für die Übersetzung von Fachtermini, wenn auch nicht für die von Fachtexten.

Die westliche Medizin bietet erleuchtende Beispiele der erfolgreichen Verwendung von ausgangsorientierter Übersetzung an. Die Terminologie der westlichen Medizin war ur­sprünglich lateinisch; erst später wurde sie in die verschiedenen Landessprachen übersetzt. In jüngerer Zeit ist sie ins Chinesische und in andere nichteuropäische Sprachen übersetzt worden.

In der Medizin, so wie auch in anderen Fachgebieten, sind Laientermini der Gemeinspra­che von Fachtermini zu unterscheiden. Als die gemeinsprachlichen Termini aus dem Latei­nischen ins Englische und ins Deutsche übersetzt wurden, wurden jeweils die entsprechen­den gemeinsprachlichen Termini gewählt. Hier sind einige Beispiele.

Gemeinsprachliche Äquivalente im deutschen und englischen Wortschatz der westlichen Me­dizin

Deutsch Latein Englisch

Kopf caput head

Auge oculus eye

Mund os mouth

Knochen os bone

Haut cutis skin

Blut sanguis blood

Hand manus hand

Fuß pes foot

Knie genu knee

Nagel unguis nail

Leber jecus, hepar liver

Milz lien, splen spleen

Herz cor heart

Bei der Übersetzung rein technischer Termini wurden im Englischen und im Deutschen jeweils verschiedene Ansätze verwendet. Die lateinischen Termini wurden ins Englische durch Entlehnung direkt übernommen, im Deutschen aber unter Verwendung von Lehn­übersetzungen wiedergegeben.

Gemeinsprachliche Äquivalente im deutschen und englischen Wortschatz der westlichen Me­dizin

Deutsch Lehnübersetzung Latein Englisch

Darmbein ilium ilium

Schlüsselbein clavicula clavicle

Wirbelsäule columna vertebralis vertebral column

Speiche radius radius

Herzvorhof atrium atrium

Zwölffingerdarm intestinum duodenum duodenum

Blinddarm intestinum cecum cecum

Becken pelvis pelvis

Nierenbecken pelvis renalis renal pelvis

Pförtner pylorus pylorus

Vorsteherdrüse glandula prostata prostate (gland)

Eierstock ovarium ovary

Regenbogen iris iris

Bindehaut tunica conjunctiva conjunctiva

Netzhaut tunica? retina retina

Hornhaut cornea tela cornea

Schleimhaut membrana mucosa mucous membrane

Scheide vagina vagina

Keilbein os sphenoideum sphenoid bone

Hammer malleus malleus

Amboß incus incus

Steigbügel stapes stapes

Pflugscharbein vomer vomer

Leberentzündung hepatitis hepatitis

Krebs cancer cancer

Entlehnung ist die reinste Form von ausgangsorientierter Übersetzung, weil sie die ur­sprünglichen Termini bewahrt. Demgegenüber bewahrt die Lehnübersetzung nur die wört­liche Bedeutung, nicht aber die phonetische Form eines Terminus, d.h., den Laut.

In einigen Fällen hat das Deutsche, anstatt Lehnüberstzung zu verwenden, neue Termini unabhängig vom Musters des Ausgangsterminus gebildet. Ausgangsunabhängige Neubil­dungen wurden nur als letzer Ausweg in Betracht gezogen.

arteria Schlagader (lit. “beating vessel”)

scrotum Hodensack (lit. “testicle sack”)

ascites Bauchwassersucht (lit. “belly water sickness”)

glandula Drüse(wörtl. “a swelling”)

Das Englische unterscheidet sich vom Deutschen dadurch, daß es zwar eine Germanische Sprache ist, daß aber es schon früh in seiner Entwicklung vom Französichem beeinflußt wurde. Entlehnung ist deshalb im Englischen zur Tradition geworden; im Deutschen ist sie aber auch heute noch nicht sonderlich üblich.

Die Übersetzung der Terminologie der westlichen Medizin ins Chinesische ist fast genau dem oben beschriebenen deutschen Muster gefolgt. Gemeinsprachliche Fachwörter wurden mit den entsprechenden chinesischen gemeinsprachlichen Wörtern übersetzt. Rein fach­sprachliche Termini wurden wörtlich, d.h., durch Lehnübersetzung, wiedergegeben. Im Chinesischen ist die Entlehnung noch weniger üblich als im Deutschen.

Bei der Übersetzung der westlichen medizinischen Terminologie sowohl aus dem Lateini­schen ins Deutsche und ins Englische als auch aus westlichen Sprachen ins Chinesische wurde jeweils ein ausgangsorientierter Ansatz verwendet. Im Englischen wurde Entleh­nung vorgezogen, im Deutschen und im Chinesischem wurden Lehnübersetzungen bevor­zugt.

Im Gegensatz zur westlichen Medizin werden die oben genannten Übersetzungsprinzipien bei der Übermittlung der Chinesischen Medizin nicht universell angewendet. In keiner eu­ropäischen Sprache ist ein ausgangsorientierter Ansatz bislang dominant geworden, und dies nur deshalb, weil der mangelnde Zugang zu Primärquellen auf der einen Seite unge­eignete Termini in Umlauf gebracht hat, was wiederum auf der anderen Seite die Vorstel­lung gefördert hat, daß die Chinesische Medizin keine große Terminologie besitze. Letztere Vorstellung entspricht aber nicht den Tatsachen. Das 1995 veröffentlichtes Zhongyi Daci­dian (“Das große chinesische medizinische Wörterbuch”) enthält beinahe 32.000 Termini (ZY 1995). Das Wörterbuch, das mein Kollege und ich verfaßt haben, sollte diejenigen, die Chinesisch nicht lesen, davon überzeugen, wie irrtümlich diese Vorstellung ist.

Eine ausgangsorientierte Übersetzungsmethodik ist jedoch durchaus möglich. Darüber hin­aus wird sie in den englischsprachigen Ländern in zunehmenden Maße als die einzig zu­verlässige Methode für die Übermittlung Chinesischen Medizinischen Wissens betrachtet.

Terminologienormung

Exakte Übersetzung ist nicht die einzige Anforderung der transkulturellen Vermittlung von Wissenkorpora. Die Terminologienormung ist ebenfalls von großer Bedeutung. Wenn ver­schiedene Autoren ein und denselben Begriff mit verschiedenen Worten bezeichnen oder verschiedene Begriffe mit ein und demselben Wort belegen, so gerät derjenige Leser in Verwirrung, der die Schriften verschiedener Autoren lesen will.

Die westliche Literatur der Chinesischen Medizin wird erst dann zur Reife gelangen, wenn in allen vorhandenen Werken eine einheitliche Terminologie verwendet wird. Wenn wir eine authentische Chinesische Medizin erhoffen, dann muß die westliche Terminologie mit der chinesischen Terminologie streng verbunden sein. Eine solche Terminologie sollte in Form einer zweisprachigen Liste veröffentlicht werden, damit sie allen Übersetzern zur Verfügung steht. Es sollte jedem Übersetzer möglich sein, mittels dieser zweisprachigen Liste jeden beliebigen Text ins Chinesische zurückzuübersetzen. In der Übersetzungstheo­rie heißt dies die Rückübersetzungsprobe.

Übersetzer werden die westliche Literatur durch ihre neuen Beiträge erst dann wirksam bereichern, wenn sie alle eine einheitliche Terminologie verwenden. Chinesische medizini­sche Übersetzer haben sich mit dieser Notwendigkeit bislang noch nicht befaßt. Auch die­jenigen, die aus ursprünglichen Quellen übersetzen, verwenden zumeist keine veröffent­lichte Terminologie. Die Anwendung einer nicht veröffentlichten Terminologie verhindert die Prüfung einer so entstandenen Übersetzung durch andere Gelehrte, und hindert auch andere Übersetzer daran, dieselbe Terminologie zu verwenden. Eine nicht veröffentlichte Terminologie kann nicht zur Norm werden, weil sie das Monopol derjenigen bleibt, die dazu Zugang haben.

Darüber hinaus wird eine Terminologie für die Empfängergemeinschaft erst dann nützlich, wenn alle Termini in einem Wörterbuch definiert sind. Der Übersetzer kann zwar unge­wöhnliche Termini in der Übersetzung in Fußnoten, oder in angehängten Glossaren erläu­tern, aber Erläuterungen von Termini sind am wirksamsten, wenn sie in einem einzelnen Wörterbuch gesammelt werden. Ein umfassendes Wörterbuch macht es jedem Leser mög­lich, jeden Terminus nachzuschlagen, und erspart dem Übersetzer die Notwendigkeit Ter­mini anderswo zu erklären.

Wenn alle Autoren einunddieselbe veröffentlichte Terminologie verwenden, und wenn alle Termini allen Studenten und Praktikern zugänglich sind, dann haben wir endlich eine feste Grundlage für die Übermittlung des begrifflichen Inhalts der Chinesischen Medizin. Auf dieser Grundlage würden alle Übersetzungen von zusammen oder unabhängig von einan­der arbeitenden Übersetzern es Studenten und Praktikern möglich machen, durch ständige Lektüre ihre Kenntnisse auf- statt umzubauen.

Fortschritte beim Erwerb chinesisch-medizinischen Wissens werden erst dann gemacht werden, wenn die bislang vernachlässigte Frage des sprachlichen Zugangs beachtet wird. Das Chinesischlernen, die exakte Übersetzung, und die Terminologienormung haben sich gegenseitig ergänzende Vorteile, und hätten eine kumulative Wirkung auf die Übermittlung der Chinesischen Medizin.

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